Autor: D. Leszczynski, 23.
Februar 2011 (Übersetzung: K. D. Beck)
Original siehe:
http://betweenrockandhardplace.wordpress.com/
In den vergangenen Tagen erschien eine Studie, die zusichert, die Behauptung zu beweisen, dass Handys nicht zu Hirntumoren führen können. Sie wurde zur Schlagzeile in der ganzen Welt. Die betreffende Studie wurde von Frank de Vocht, Igor Burstyn und John W. Cherrie unter dem Titel "Zeittrends (1998-2007) von Hirntumor-Inzidenzraten in Beziehung zur Entwicklung der Handynutzung in England" on-line (28 Jan 2011, DOI: 10.1002/bem.20648) in der Zeitschrift „Bioelectromagnetics“ veröffentlicht.
In ihrer Zusammenfassung (a) und den Schlussfolgerungen (b) erklären die Autoren:
a)
"...
Der beobachtete Anstieg der Rate der Krebserkrankungen im
Temporallappen [=
“Schläfenlappen“, s. Wikipedia] durch den Handy-Gebrauch würde 1
zusätzlichen Fall pro 100 000 Einwohner in diesem Zeitraum verursachen.
Diese
Daten deuten nicht auf den dringenden Bedarf an einem Vorsorgeprinzip
durch
bevölkerungsweite Interventionen hin, um die HF-Exposition von
Mobiltelefonen
zu reduzieren. ... "
b)
"...
Wir können nicht ausschließen, dass es Personen gibt, die anfällig sind
oder
seltene Gehirntumoren entwickeln, die mit HF von Mobiltelefonen in
Verbindung
gebracht werden können ..." und "... Allerdings interpretieren wir
die vorliegenden Daten nicht so, dass sie dringend die Implementation
eines
Vorsorgeprinzips zur Verringerung der HF-Exposition von Mobiltelefonen
durch
bevölkerungsweite Interventionen notwendig machen ... "
In der Tat, wie auch ich bereits in diesem Wissenschafts-Blog geschrieben habe,
http://betweenrockandhardplace.wordpress.com/2010/06/09/%e2%80%a2interphone-afterthoughts-and-question-about-compliance-of-mobile-phones-with-safety-standards/
wenn man annimmt, dass die Zahlen, die in der INTERPHONE-Studie präsentiert werden, richtig sind, ist die potenzielle Zunahme des einzelnen Risikos für Hirntumoren durch HF-Exposition gering, aber ich betonte, dass die Folgen für die Gesellschaft viel größer sein könnten. Natürlich gibt es zahlreiche Beschwerden über die Zuverlässigkeit der INTERPHONE-Schlussfolgerungen, aber meine Rechnungen folgen der hypothetischen Annahme, dass die Zahlen richtig sind.
Die Steigerung um 1 Fall von Gehirntumor-Erkrankungen pro 100 000 in der Studie von de Vocht et al. kann in der Tat als ein geringes Risiko für die einzelnen Benutzer betrachtet werden. Doch für die menschliche Gesellschaft [als Ganzes] muss das nicht genau so sein. Wenn wir die Zahlen von de Vocht et al. als richtig ansehen und die Gesamtzahl der Mobilfunknutzer berücksichtigen, die weltweit ca. 4,5 Milliarden beträgt, dann heißt das bei einer Gefahr neuer Gehirn-Krebsfälle von 1 / 100000 auf die Gesamtzahl der Nutzer übertragen einen Zuwachs von 45 000 neuen Gehirn-Krebsfällen weltweit. Diese große Zahl kann in Betracht gezogen werden, insbesondere wenn wir die gesellschaftlichen Folgen bedenken, die nicht nur durch die Kosten bei der Behandlung der Erkrankungs-Fälle entstehen, sondern auch den Verlust der Selbstversorgungsfähigkeit der gesamten betroffenen Familien, der nicht mit Geld gemessen werden kann, berücksichtigen.
Die Amerik. Krebs-Gesellschaft schätzt für Gehirn-und Rückenmarks-Tumoren in den Vereinigten Staaten für 2010 http://www.cancer.org/Cancer/BrainCNSTumorsinAdults/DetailedGuide/brain-and-spinal-cord-tumors-in-adults-key-statistics
-
Über 22 020
maligne Tumoren des Gehirns oder des Rückenmarks (11 980 bei Männern
und
10 040 bei
Frauen) werden
diagnostiziert. Diese Zahlen würden wahrscheinlich viel höher sein,
wenn auch
gutartige Tumore enthalten wären.
-
Über 13 140
Personen (7420 Männer und 5720 Frauen) werden an diesen Tumoren
sterben.
- Sowohl Erwachsene als auch Kinder sind in dieser Statistik enthalten.
Diese Zahlen kann man mit den 45 000 neuen Fällen weltweit vergleichen (oder 3000 neuen Fällen, bezogen auf die USA, Schätzung auf 300 Millionen Benutzer basierend), die nach de Vocht et al. erscheinen werden. Dies sind die großen Zahlen. Außerdem werden die neuen Fälle nicht gleichmäßig auf der ganzen Welt verteilt sein und die medizinische Behandlung der "Fälle" wird auch unterschiedlich sein. Obwohl, ich würde nicht so weit wie andere gehen, und so tun, als ob eine "Epidemie" im Anmarsch ist. ...
Viele dieser potenziellen Fälle könnten durch einfache Vorsichtsmaßnahmen verhindert werden, wenn auch nicht ein Vorsorgeprinzip deklamiert werden muss, gegen das de Vocht et al. sich aussprechen. Wir wissen nicht, was die Ursachen der Hirntumoren sind und wir wissen auch nicht, wie groß die Latenzzeit wirklich ist, die oft mit "zehn Jahren" angegeben wird. In diesem Zusammenhang ist die untersuchte Zeitdauer in der Studie nicht ausreichend, um behaupten zu können, dass die HF keine Wirkung haben wird. Kann sein oder auch nicht, aber die Daten für die Schlussfolgerungen in der Studie von de Vocht et al. reichen nicht aus, um ihre Behauptung zu stützen. Hinzu kommt, dass in dieser [eingangs genannten] Ermittlungszeit und der Periode vor demjenigen Zeitraum, aus dem die Daten stammen, viel weniger Teilnehmer für viel kürzere Dauern das Mobiltelefon [als heute] nutzten. Das bedeutet, dass viel weniger Nutzer der Handy-Strahlung weniger stark und für eine lange Zeit (über 10 Jahre) ausgesetzt waren und deshalb viel, viel weniger die potenzielle Chance hatten, Krebs zu entwickeln. Also, wegen der Latenzzeit der Studie besteht keine ausreichende Chance Wirkungen zu erkennen, wenn ein solcher Effekt vorhanden ist. Folglich scheint es so, als seien die Schlussfolgerungen der Studie leider nicht durch die Daten gestützt.
In ihren Schlussfolgerungen,
ausdrücklich keine Vorsichtsmaßnahmen fordernd, gehen dann de
Vocht et al. weiter als die Amerik. Krebs-Gesellschaft in deren als
"konservativ" betrachteten Stellungnahmen.
(Hervorhebung durch Fettdruck: D. L.):
Handy-Nutzung:
Das ist ein viel diskutiertes Thema in
den letzten Jahren. Handys geben Hochfrequenz(HF)-Strahlung ab, eine
Form von
Energie aus dem elektromagnetischen Spektrum zwischen FM-Radiowellen
und den in
der Mikrowelle, Radar, und von Satelliten genutzten Wellen. Handys
strahlen keine
ionisierende Strahlung ab. (Das ist der Typ, der DNA-Schäden verursacht
und
bekannt für die Fähigkeit ist, Krebs auszulösen.) Dennoch gibt es die
Sorge,
dass die Telefone, deren Antennen in den Geräten eingebaut
sind und im Betriebszustand in Kopf-Nähe
platziert werden, irgendwie das Risiko von Hirntumoren erhöhen könnten.
Einige frühe
bevölkerungsbezogene Studien deuteten auf ein möglicherweise erhöhtes
Risiko bei
der Handy-Nutzung hin, aber die meisten der größeren durchgeführten
Studien haben
bisher kein erhöhtes Risiko von Hirntumoren gefunden, entweder
insgesamt oder
nur bei bestimmten Arten von Tumoren. Dennoch
gibt es sehr wenige Studien über langfristige Nutzung (10 Jahre oder
mehr), und
die Handys wurden nicht lange genug genutzt, um die möglichen Risiken
bei
lebenslangem Gebrauch zu bestimmen. Das gleiche gilt für etwaige
erhöhte
Risiken von Kindern, die zunehmend diese Telefone benutzen. Die
Handy-Technologie
ändert sich auch ständig, und es ist nicht klar, wie dies
möglicherweise das
Risiko beeinflusst.
Studien sind im
Gange, um diese Risiken beurteilen zu können, aber es wird
wahrscheinlich viele Jahre dauern, bevor endgültige
Schlüsse gezogen werden. In der Zwischenzeit gibt es für die Menschen,
die über die möglichen Risiken besorgt
sind,
Möglichkeiten zur Senkung der Exposition, wie z. B. die Benutzung eines
Ohrhörers, damit das Handy beim Telefonieren vom Kopf weggehalten
werden kann.
"
Das bedeutet, dass die Amerik. Krebs-Gesellschaft, korrekt gesehen, die "Tür offen" lässt. Wir wissen noch nicht genug, um zu einem endgültigen Urteil zu kommen. Die Telefone sind noch nicht lange genug im Gebrauch. Aber diese Betrachtung ist der richtige Wissenschafts-Ansatz.
Gleichzeitig stellen de Vocht et al. in dem Text des Artikels fest (oder vielmehr „sie spekulieren“):
"... Das
Fehlen eines plausiblen biologischen Mechanismus, nach dem
HF-Exposition
gentoxisch sein könnte, legt nahe, dass, im Falle einer existierenden
Verbindung
HF-Exposition eher wie eine Promotion oder Progression auf das
Tumorwachstum
wirkt und dabei eine durchschnittliche Latenzzeit von 5-10 Jahren hat,
...
".
Warum ist das so? Wenn die Tumore durch andere Faktoren als HF induziert werden, dann wird die HF-Exposition laut de Vocht et al. nur ihr Auftreten beschleunigen, jedoch nicht ihre Häufigkeit erhöhen. ... Das bedeutet, dass die [Krebs-]Fälle früher erscheinen, aber nicht in höheren Zahlen .
Außerdem wird das Fehlen von Mechanismen zur Erklärung der Erscheinung durch de Vocht et al. als guter Grund betrachtet, die Möglichkeit der potentiellen Existenz des Phänomens zu verwerfen. Das ist kein wissenschaftlich gültiger Ansatz. Erinnern wir uns, dass wir für viele Erscheinungen die Ursachen und Mechanismen nicht kennen, aber sie existieren, unter ihnen die Hirntumoren ... Schließlich ist es die "verkürzte" Latenzzeit, die von den Autoren als Argument verwendet wird, um die Richtigkeit ihrer Ergebnisse zu stützen. Aber ist diese Annahme von 5-10 Jahren Latenzzeit korrekt? Die Grundlage für eine solche Behauptung ist, dass die HF keine gentoxischen Effekte verursacht. Ja, sie kann wegen zu geringer Energie die DNA nicht direkt brechen. Aber könnte es Auswirkungen auf die DNA-Integrität über andere Mechanismen geben, wie über freie Radikale oder reaktive Sauerstoffspezies? Kann -, aber niemand weiß es genau. Diese Möglichkeit jedoch im gegenwärtigen Stadium der Erkenntnis abzuweisen, ist falsch, da sie noch nicht von den wissenschaftlichen Daten unterstützt wird.
Schließlich ist es etwas überraschend, dass Aussagen über die fehlende Notwendigkeit von Vorsichtsmaßnahmen das Peer-Review-Verfahren durchlaufen haben. Allerdings haben wir uns daran zu erinnern, dass das Peer-Review-Verfahren kein perfektes Werkzeug ist, um die Qualität einer Arbeit zu beurteilen. Sie kann von den Herausgebern vor der Zeit beeinflusst werden - Beiträge können (und sie tun es tatsächlich) oft von der Meinung der Rezensenten auf dem betreffenden Gebiet abhängen.
Und vergessen wir nicht, dass die WHO und ICNIRP zur Vorsorge raten, ebenso viele nationale Organisationen….
Die Übertreibungen von Wissenschaftlern, die nicht durch die Daten unterstützt werden, ist einer der Gründe, warum dieses Forschungsgebiet Glaubwürdigkeits-Probleme hat. Wenn Journalisten etwas schreiben und einige Sachverhalte übertreiben, dann haben wir Wissenschaftler es schwer, dagegen etwas zu tun. Das nennt man Pressefreiheit. Aber wenn wir Wissenschaftler unsere Schlussfolgerungen übertreiben und diese nicht durch wissenschaftliche Beweise untermauert sind, dann ist das unsere "Schuld", wenn alarmierende Schlagzeilen (entweder behaupten, dass eine Epidemie von Gehirntumoren auf uns zukommt oder auch behaupten, dass überhaupt keine Gefahr besteht) in Nachrichtenmedien erscheinen. Wenn dann als Folge davon die allgemeine Öffentlichkeit und die Entscheidungsträger gleichermaßen zumindest verwirrt sind und ihre Aufmerksamkeit abwenden ...
[Es folgt ein Hinweis auf eine Plenartagung am 13. Juni 2011 unter dem Titel:
„Wissenschaft und neue Medien“ unter der Leitung von D. Leszczynski.]